Das große Wiedersehen – 15 Tage Bosnien und Herzegovina
40° C, die Klimaanlage kämpft einen sinnlosen Kampf. Es ist nicht der erste sinnlose Kampf in dieser Gegend. Wir rollen gerade – 15. Juli 2001 – mit 56 Jugendlichen, davon 17 aus den Niederlanden und Deutschland, in Mostar ein. Zerstörungen links und rechts der Straße. Vor sechs Jahren wurde hier so lange auf die Häuser geschossen, bis kein Leben darin mehr möglich war. Leere Fensterlöcher, der Putz fast komplett weggeschossen, Bäume wachsen, wo früher Fernseher standen.
Der Weg bis hierhin war lang. Er begann vor drei Jahren, als 24 Jugendliche aus allen Teilen von Bosnien und Herzegovina (BiH) nach Walberberg im Rheinland kamen, um dort – vielleicht zum ersten Mal – mit Gleichaltrigen aus dem selben Land, vielleicht auch der eigenen Stadt, aber mit den anderen Ethnien in Kontakt zu treten. Das Gleiche wiederholte sich 1999 und 2000, mit jeweils anderen Jugendlichen, und das berühmte kleine Korn der Hoffnung war gesät….
Und nun fahren von den Sommercamps der vergangenen drei Jahre 59 Teilnehmer und 15 Betreuer zusammen durchs Land, helfen durch ihre eigene Arbeit anderen Kindern von BiH. Eine Premiere seit dem Bürgerkrieg.
Erste ernsthafte Überlegungen für eine Rückbegegnung wurden während des Sommercamps 2000 angestellt. Damals – und in den Jahren zuvor – meinten die jugendlichen Teilnehmer, daß es nicht ausreiche, sich nur in Deutschland zu begegnen. Es lag auf der Hand, daß die Rückbegegnung in Bosnien und Herzegovina (BiH) sein sollte. Viele der Jugendlichen aus BiH befürchteten jedoch, daß ihre Eltern die Teilnahme nicht gestatten würden, wenn nur eine der beiden staatlichen Entitäten besucht würde. Es wurde deutlich, daß man mit viel Fingerspitzengefühl für die besonderen Bedingungen in BiH herangehen mußte. So entstand der Plan, Projektarbeiten in beiden staatlichen Entitäten vorzusehen und das Ganze mit einer Rundreise und Erholungszeiten zu verbinden.
Durch die gemeinsamen Projektarbeiten für die jeweilig andere Seite wollten wir zur Vertrauensbildung beitragen und zeigen, daß man selbst Hand anlegen muß, um die Dinge zu verbessern.
9. Juli 2001, Sarajevo, der Anfang:
Die einheimischen Betreuer und ein kleiner Teil des deutschen Teams sind schon da, warten darauf, daß die Teilnehmer aus BiH langsam herantröpfeln. Der erste kommt morgens um 11.00 Uhr, und so geht es weiter bis zum Abend. Am Nachmittag landen die niederländischen und deutschen Teilnehmer und Betreuer in Sarajevo. Den ganzen Tag Lachen, Umarmungen, spontanes oder auch zögerndes Wiedererkennen, lautes Rufen. Im ganzen Haus Geschnatter, die positive Energie ist fast greifbar. Was diese Energie vermag, das werden die nächsten beiden Wochen zeigen.
In Sarajevo wollen wir im Garten des Zentrums für blinde Kinder den Spielplatz erneuern und sicherer machen. Dafür stehen 45 Kubikmeter Sand bereit, der mit Schaufeln und Schubkarren transportiert werden will. Da muß vorher Unkraut gezupft werden, da müssen Autoreifen unter den Wippen verbuddelt werden. Die kantige Betoneinfassung des Spielgeländes wird durch angenehmere und blindenfreundlichere Eichenstämme ersetzt. Am frühen Nachmittag des ersten Arbeitstages ist der größte Teil des Sandbergs verschwunden.
Das ist gut so, denn am nächsten Tag geht es weiter nach Derventa, einer kleinen Stadt in der Republika Srpska, dem serbischen Teil von BiH. Derventa war im Laufe des Krieges immer wieder zum Zankapfel der diversen Parteien geworden. Die Fahrt dahin führt zum Teil entlang des ehemaligen Frontstreifens, gut erkennbar an den vielen noch immer zerstörten Häusern. Auch in Derventa erwartet uns der Garten einer Blindenschule. Aber da sieht es ganz anders aus als in Sarajevo.
Der Garten in Derventa war eine Schlammwüste, von Unkraut überwuchert und für die blinden und behinderten Kinder unbrauchbar. So flog im Februar Robert Krengel, ein Campus15 nahestehender Landschaftsbauer aus Siegburg, nach BiH, vermaß das Gelände, machte die Pläne und erstellte ein Leistungsverzeichnis. Und es entstand – erst auf dem Papier und im Laufe des Sommers auch in der Realität – ein Garten, spannend für Sehende und Blinde, gut für Schüler und Lehrer, für Kinder und Erwachsene.
Ein Weg führt in sanften Bögen zum neuen Spielplatz, aber dieser Weg ist nicht nur eine Möglichkeit von A nach B zu kommen: Der Belag setzt sich mal aus dünnen Querbalken zusammen, dann feiner Kies, es folgen grobe Holzstückchen, dann Rundhölzer, Sägemehl und Schotter. Es entstand ein Außen-Klassenzimmer, Hochbeete zum Lehren und Lernen für selbst anzubauende Blumen und Kräuter und natürlich – ein Spielplatz. Auch der Vorgarten, die Visitenkarte der Schule, strahlt jetzt in neuem Glanz.
Möglich wurden diese Arbeiten u.a. durch die kräftige Unterstützung der CIMIC – Kompanie der Bundeswehr (Civil Military Cooperation), einer SFOR-Einheit, die sich ausschließlich um die Organisation (Ausschreibungen, Materialbeschaffungen, Auftragsvergabe, Überwachung der Arbeiten, Abnahme und Abrechnungen etc.) von Wiederaufbauprojekten kümmert. So war gewährleistet, daß die Gelder von Campus15 entsprechend der Pläne umgesetzt wurden. Besonders zu erwähnen ist hier das unermüdliche Engagement der Hauptleute Hundhammer und Strauch und von Hauptfeldwebel Schneider, die mit unbürokratischer Flexibilität auch auf plötzlich auftretende Veränderungen eingingen und in ihrer Begeisterung nicht zu übertreffen waren.
Was kann man in einem Garten wie in Derventa mit 55 Jugendlichen machen? Die Fläche für das Außen-Klassenzimmer mußte noch weiter ausgehoben werden. Für solche Arbeiten nimmt man hier Muskelkraft, keine Kleinbagger. Die Beete müssen umgegraben, dann die Steine, Scherben, Nägel, Putzlumpen und Ähnliches heraussortiert, der Vorgartenzaun abgeschmirgelt und grundiert sowie die Beeteinfassungen gestrichen werden. Und die Jugendlichen packten an! Es wurde gebuddelt, sortiert, geschmirgelt, gestrichen, manch einer hatte Blasen an den Händen und schaufelte trotzdem weiter. Am Abend waren sich alle einig: Das war ein harter Tag. Und viele sagten: Es war ein harter, aber ein sinnvoller Tag.
Mehrere Tage hintereinander schafft ein untrainierter Körper diese harte Arbeit kaum. Außerdem ist auch ein Grundgedanke von Campus 15, daß die Teilnehmer Land und Leute besser kennen lernen sollen. Deshalb ging es bald weiter nach Banja Luka. Dort blieben wir nur einen Tag, nutzten diesen, um uns die Stadt in Kleingruppen, immer geführt von einheimischen Teilnehmern, anzuschauen.
Von Banja Luka, wo der Krieg wenig sichtbare Spuren hinterlassen hat, ging es am nächsten Tag weiter durch wunderschöne Landschaften bis nach Mostar. Und während Sarajevo und Derventa schockiert hatten, es aber auch allerorten Zeichen des Wiederaufbaus gab, so machte Mostar nur wütend. Wütend auf
diese völlige Sinnlosigkeit des Krieges, die sinnlose Zerstörung der historischen Brücke, die Vertreibung der Menschen. Manchen Häusertrümmern konnte man noch ansehen, daß dort mal wunderschöne Gebäude gestanden hatten. Doch jetzt Trümmer und Spuren der Verwüstung. Die Trennungslinie durch die Stadt ist heute noch so wie zu Kriegsende: Am „Bulevar“ entlang nichts als total zerstörte Häuser. Im kroatischen Westteil, hoch oben auf den Bergen, von weit her, aber auch von der Brücke aus sichtbar, steht ein neu errichtetes, großes weißes Kreuz. Dort standen im Krieg die Geschütze, die die Brücke zerstörten.
Den arbeitsreichen Tagen in Sarajevo und Derventa folgte der Teil des Wiedersehens, auf den alle am meisten gewartet hatten: drei Tage Strand in Neum. Hier erholte man sich von der Arbeit in den Gärten, kurierte Blasen an den Händen aus, war kreativ beim „Body Painting“ und maß sich als 5er-Team im spielerischen Wettkampf der “Water Olympics”. Ein Tagesausflug nach Dubrovnik läßt uns erahnen, welche reiche Geschichte sich mit dieser Küstenregion verbindet.
„Was denkst Du über unser Land“ – im Angesicht der Zerstörungen, die überall noch sichtbar sind, war eine der häufig gestellten Fragen an die Teilnehmer aus Mitteleuropa. Und die Antwort an unsere Freunde aus BiH war: „Warum hatte das alles zu geschehen?“ Auf diese Frage gibt es
bis heute keine wirklich schlüssige Antwort.
Die letzten Tage waren wir wieder in Sarajevo, brachten dort die Arbeiten zu Ende, und dann kam am 23. Juli auch schon der Abschied. Aber muß es ein Abschied für immer sein?
Die 16- bis 20-jährigen Teilnehmer haben eines begriffen: Nun sind sie keine Kinder mehr, sondern junge Erwachsene, und es ist an ihnen, den Kontakt untereinander nicht abbrechen zu lassen. Wie die Homepage von Campus15 zeigt, gelingt ihnen das auch, und die Rückbegegnung 2001 ist in den Köpfen noch lange nicht vorbei.
(Veronika Vollrath, September 2001)